Phrasensumpf

Foto Belinda Helmert: Frederikshavn, Nordostjütland, Dänemark, Einfahrt https://de.wikipedia.org/wiki/Frederikshavn

Die Fackel muss leuchten

Der Wahlwiener Karl Kraus (1874-1936) würde sich wundern über die heutige Pressesterilität, ihre zahnlosen Papiertiger, verkleidet und von der fahnenflüchtigen Leserschaft goutiert als Journalisten. Als es mit der Schauspiel- noch der Juristenkarriere nicht voranging, fand der beißendste Spötter deutscher Sprache, der Satiriker Kraus zu seiner Bestimmung. Humorvoller als Kraus und langatmiger als der asthmatische Tucholsky gründete er Die Fackel, quasi ein roter Leuchtturm (sozialpolitisch engagiert, frei von Hetze und Denunziation) in der Finsternis, den zunehmend braunen Sumpf, der im Anschluss Österreichs an den österreichischen Führer in Berlin enden sollte. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Fackel

Ein epochales Lebenswerk bis zum letzten Atemzug; vom April 1899 mehr als 24 000 Seiten und über 900 Ausgaben, in der auch Gastautoren wie Peter Altenberg oder Egon Friedell Aphorismen, Essays und Glossen veröffentlichten. Trotz der Zensur oder gerade wegen ihr (heute erscheint sie überflüssig, da Belanglosigkeiten nie gefährlich sind) erschien die Periodika, mit der Ausnahme des Ersten Weltkrieges, in dem eine pazifistische Haltung oder realistische Schilderung von der Front a priori sich verbot. Literatur ist Haltung, der Autor niemanden als seinem Gewissen Rechenschaft schuldig – wie sollte das heute noch möglich sein im Tralala Medienzirkus, der auf Anzeigen und Lobbyisten schielt und ausschließlich ökonomischen Gesetzen unterworfen bleibt.

Auf dem heutigen Förderband PR, die wie eine geölte Maschine Papier bedruckt oder digitalisierte Daten in Umlauf bringt, hätte selbst ein begnadetet Stilist wie Karl Kraus eine Fackel nicht zum Leuchten gebracht. Gedruckte Schauspielkunst, Kabarett im Kabinett – das sollte Die Fakel sein. die Journaille selbst, schuldig am Fieber der Dummheit und der Phrasendräscherei, der Edelkitsch (Feuilleton, eau de Cologne als geistiger Zukerbäcker, Heine). Der Jude klagt den Juden an – prompt gilt er bis heute als Antisemiten. Immerhin adelt es, Kraus, Die Fackel war die erste Zeitung, die auf deutschem Boden zur Gänze verboten war.

Der Sohn eines jüdischen Industriellen aus Böhmen war ein begnadet geistreicher, vom Esprit des Witzes getragner Journalist, der sich um den Ausdruck sorgte, wiel Sprache ihm vor allem Kultur und Haltung war. Wo die Sprache verroht und absonderlich flach, mitunter verlogen und polemisch plum verzerrt wird, geht die Menschlichkeit verloren. „Psychoanalyse ist die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält.“ Nichts ist unergründlicher, als die Oberflächlichkeit. https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-karl-kraus-wiener-satiriker-todestag–100.html

Foto Belinda Helmert: Sandstrand an der Ostsee nahe Frederikshavn, Blick auf das Kattegatt https://de.wikipedia.org/wiki/Kattegat

Zu Hitler fällt mir nichts ein

Natürlich spiegelt Kraus´ Eingangssatz 1933 nach der Machtergreifung pure Ironie als auch Sarkasmus wider. Er beinhaltet auf seinen 300 Seiten in der „Walpurgisnacht 3“ selbtredend die Aussage: über so etwas Ungeheuerliches lässt sich nichts sagen, ohne Allgemeinplätze zu bedienen. Der Essay (sofern man 300 Seiten so bezeichnen kann) handelt über das persönliche Erschlaffen des gesunden Menschenverstandes in der Apparatur (für Kraus der Zustand vor dem Sündenfall), die notwendigerweise in die Vernichtung führt. Vor dieser Propaganda hatte er 1925 noch gesagt: „Mir fällt zu jedem Dummkopf etwas ein.“ Fakten der Gewalt sprechen für sich, heute wie damals. Kollaborateure dieser Gewalt (Worthelfer) dieser Anfang vom Untergang: Benn und Heidegger. Gleichschaltung als logische Folge mangelnder Individualität. https://www.youtube.com/watch?v=qEsqWHqhfE0

Kraus wollte „Zeitpolemiker“ sein. Eine breite Diskussion 2024 zum Werk, der Familie (eine Ausstellung über Kraus´Biofrafie lief 2024 in Wien) liefert der lange Podcast. https://www.ardaudiothek.de/episode/forum/im-zweifel-fuer-das-richtige-karl-kraus-zum-150/swr-kultur/13343139/

Lüge im außermoralischen Sinn kann mehr Wahrheit und in Zeiten der Zensur auch mehr Notwendigkeit enthalten, weil sie zum Nachdenken zwingt und das Reflexivverhalten, damit auch die politische Autonomie fördert. Über die Nationalsozialisten schrieb Kraus recht selten, dafür aber schon früh. 1922 bezeichnete er sie in der „Fackel“ als „ein Gezücht von Hakenkreuzottern“, ohne dass es ihn davon abhielt Dollfuß als Alternative ins Auge zu fassen. https://topos.orf.at/karl-kraus-ns-machtuebernahme100. Nur wer in einer Sache irrt, muss nicht im Großen und Ganzen den Verststand verloren haben.

Foto Belinda Helmert: Strandgut an Nord-Jütlands Küste https://de.wikipedia.org/wiki/Nordj%C3%BCtland

Das Ende der Menschheit

Das Verheizen von Menschen wie Material, die einseitige Berichterstattung, der sprcihwörtliche Maulkorb während der Kriegsjahre – die Umstände zwangen Kraus dazu, dass er erst in einer Sondernummer der Fackel 1918 und nicht bereits früher, als sein Lesedrama entstand, veröffentlichen konnte. Er stellte die rihtigen Fragen, die auch heute noch Geltung besitzen: Wer ist für die Apokalpype verantwortlich? Die angebliche „Neue Freie Presse“ , deren Redakteure Sprache durch ihr Sprechen beschmutzen und ihren Geist nur darauf verwendeten, um Leiber zu morden und das Morden zu rechtefertigen?

Für Kraus war es am Ende stets die duldende Menschheit (der Massenmensch, ein Phänomen des 20. Jh., das u. a. Ernst Toller und Ortega y Gasset aufgriffen), die nur um sich selbst besorgten Kleingeister und Rechthaber, die Schweigespirale an sich. https://www.ardaudiothek.de/episode/das-kalenderblatt/karl-kraus-veroeffentlicht-den-epilog-von-die-letzten-tage-der-menschheit/bayern-2/78817228/

Im Zweifel muss man für das Richtige stehen. Kraus sammelte Beleidigungsklagen en masse: vielleicht ist dieser Widerstand über 30 Jahre gegen das establishment (die Regierung) in der Nachbetrachtung mehr mehr als das Ehrenverdienskreuz. Auch wenn Kraus wie Roth sich die Monarchie zurückwünbschte und damit das Reich anstelle des Nationalstaates – wer möhte es ihm angesichts heutiger Fakten zur Last legen?

Nachzulesen:https://www.uni-saarland.de/fileadmin/upload/fakultaet-p/gutenberg/Gedicht_des_Monats/Karl_Kraus_DieRaben.pdf

„Die letzten Tage der Menschheit“ (1914 begonnen) sind beides: Zeitdokument menschlichen Versagens und des kalkulierten Mordens auf der einen wie das ohnmächtige Wiederkauen vorgesetzter Lügen (die freiwllige Knechtshaft) auf der anderen Seite, aber auch zeitloses Aufdecken von allzu hartnäckig verschwiegenen Lücken im Enthüllungsjournalismus. Das Drama, heute neben dem Gesamtwerk „Die Fackel“ unbestritten Kraus´ politisch-literarisches Vermächtnis ist untergliedert in Vorwort, Vorspiel und fünf Akten, sowie den Epilog. Dieser mündet in der Stimme Gottes: „Ich habe es nicht gewollt.“:

https://www.projekt-gutenberg.org/kraus/letzttag/letzttag.html. Zu spielen bzw. im klassischen Sinn aufzuführen ist das Stück gewiss nicht, schon aufgrund der ständig szenish wechselnden Protagonisten bzw. Stimmen.

Foto Belinda Helmert: Fischkutter bei Fredrikshavn, Nordostjütland. Oberon, bekannt aus Shkespeares Sommernachtstraum, ist der König der Elfen und liegt stets im Streit mit seinerGattin Titania. Kraus kommentierte in seinem Essy anlässlich des für unsinkbar gehaltenen Luxusliners Titanics die Worte des Ingenieurs Joseph Bell („Selbst Gottes Zorn kann dieses gewaltigte Schiff nicht versenken“) lakonisch : „Gott hat nicht Schiffbau studiert“. Immerhin besaß Bell den Anstand, mit Gottes Zorn unterzugehen. https://www.textlog.de/35997.html

Ursprung ist das Ziel

Walter Benjamin, aufgrund seiner Nähe zu Brecht kein Freund von Aphoristikern, nannte seinen Essay 1931 über den Sprachvirtouosen nach einem Zitat von Kraus. Ursprung ist das Ziel. https://www.derstandard.de/story/2000116985833/walter-benjamin-ueber-karl-kraus-liebesdienst-am-berserker. Trotz seiner Vorbehalte blieb er ein getreuer Leser von „Die Fackel“ seit 1916, auch aufgrund seiner Kritik am Krieg und mehr noch an seiner medialen Inszenierung. Randnotiz: Jan Philipp Reemtsma schrieb über Benjamins Kraus- Rezeption für Adornos kritische Schriften (Noten zur Literatur) einen Aufsatz.

Satire muss nicht links sein.. Römisch gedacht, sah sich er der Kulturphilosoph Sprache vewrpflichtet: wir haben die Nachwelt verloren. Ist es wichtig, dass er die Konfession (vom jüdischen zum Katholishen) änderte. Am Anfang war der Witz. Einen größeren Kontrast als die Diskrepanz zwischen Gott und seiner Schöpfung gibt es nicht. Logisch, dass Religion nur mit satirischem Humor zu bemeistern ist. Doch noch vor Gott lag etwas anderes, Ursprünglicheres, die Ewigkeit selbt: Am Anfang war die Presse und dann erschien die Welt. Der Krieg ist Frevel, Gotteslästerung, Maschinenbestie, eine Kampfansage an den Friedensrichter, den Demiurgen. Am Ursprung aber gibt es kein Plagiat. Daher gilt es, hinter den Symptomen die Ursache zu erkennen.

Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können – das macht den Journalisten.“ Die Trivialität des Feuilletons ist ein wiederkehrendes Motiv in Kraus´Abrechnung mit der Zunft, der er nicht angehören will, gerade weil er als engagierter Verleger sich nicht prostituieren möchte. Ursprünglich ist, hier an Kierkegaard anknüpfend, der zweifel und im Zweifel muss man Recht haben, indem man das Richtige tut. Nie wegschauen oder sich gemein machen mit den Mächtigen, den Dummen, den Feigen, sondern kritisch bleiben. All das geht im „Phrasensumpf“ verloren. „Der Schwache zweifelt vor der Entscheidung; der Starke danach.“

Immerhin sagt sich der Autor durch die Presse-Satire vom Milieu seiner Herkunft los, der wohlhabenden liberalen jüdischen Wiener Bourgeoisie, andererseits nimmt er das Erbe seines Vaters an, das ihn nicht nur „Die Fackel“ finanziert, sondern ein sorgenfreies Leben. Unabhängigkeit inklusive.

Foto Belinda Helmert: Blühendes Leben auf und durch Steine an der Küste zwischen Friedrichshavn und Skagen.

Fortschrittskritik

Ein „krauser“ Aphorismus lautet: „Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als sie die Verbreitung des Einfältigen ermöglicht.“ In seiner nimmermüden Anprangerung des Fortschritts-Wahnsinns kommt er ,mehr als ein wortspiel auf Henry Ford zurück. Besonders sein Buch „Kanonade auf Spatzen“, eine Sammlung von Glossen aus dem Jahr 1930, verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Ökonomie und diktatur. An den heutigen Mogug, sei es Mask oder Gates, kann kein Weg vorbeiführen Tue Gutes und Rede darüber, selbst wenn du nur Schlechtes vollbringst.

Analog zu Friedell, der den Imperialismus auf die Kunst überträgt, bleibt die Kapitalismus-und Technokratismus-Kritik ein Kontinuum bei Kraus: „Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als sie die Verbreitung des Einfältigen ermöglicht.“ (Sprüche und Widersprüche,1924) Bereits 1909 äußert der Glossar, „Wir stehen im Zeichen des Fortschritts.“ sei nur eine Phrase. Die Dialektik des Stillstands, die Katastrophe in Permanenz, wird indirekt angesprochen:

https://www2.klett.de/sixcms/:media.php/229/350481_0112_kraus.pdf. Am Ende ist Fortschritt nur dann wahr, wenn neben dem technischen auch der soziale und der ästhetische inkludiert ist. Kraus führt Hegels Maxime, Weltgeschichte sei der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, ad absurdum.

Foto Belinda Helmert: Spuren im Sand in Nordostjütland an der Ostsee.

Kunst als Einspruch gegen die Mediengesellschaft

Kraus lebte praradox und er lebte von, in , mit und zwischen den Paradoxa. „Ein Paradoxon entsteht, wenn eine frühreife Erkenntnis mit dem Unsinn ihrer Zeit zusammenprallt.“ Eine konkrete Anwendung lautet: „Kunst ist etwas, was so klar ist, daß es niemand versteht.“ Gerade darum weil gilt: „Künstler ist einer, der aus einer Lösung ein Rätsel machen kann.“ Der Künstler darf sich nie gemeinmachen, muss seinen Standpunkt, seine Unabhängigkeit bewahren. Genau dieses wirft er den bedeutendsten Spötter der Romantik, Heinrich Heine vor.

In seinem Essay „Heine und die Folgen“ 1910 wirft er dem einst Verschmähten und heute Verehrten vor, sich für das Ornament („Operettenlyrik“) und die Ästhetik (Seichtheit“) und damit gegen politische Werte und Ethik („Nazarenertypus“) entschieden zu haben. https://www.deutschlandfunk.de/der-ritter-des-ursprungs-100.html– Weiter: „Der Verschweinung des praktischen Lebens durch das Ornament entspricht die Durchsetzung des Journalismus mit Geistelementen, die aber zu einer noch katastrophaleren Verwirrung führen mußte.“

Heine war Journalist, Satiriker und Dichter war, also dreifacher Kollege von Kraus. Der Wiener Spötter wirft dem reheinischem Spötter „Verquickung des Geistigen mit dem Informatorischen“ vor, ein Element des Journalismus. http://www.lyriktheorie.uni-wuppertal.de/lyriktheorie/texte/1910_kraus.html. Fazit: Es ist aber immer noch besser, daß die Künstler für die gute Sache, als daß die Journalisten für die schöne Linie eintreten. Die Echtheit in der Kunst vom Schwindel zu unterscheiden

Foto Belinda Helmert; verräterische Spuren. Jütland gilt als das Vogelparadies, besonders für Ornithologen. Inb Anlehnung an Heine bezeihnete sich Kraus als Nestbeschmutzer,

Der Affe Zarathustra

Es liegt nahe, dass ein Aphorist und Sprachliebhaber auch Nietzsche würdigt, allerin schon der Ästhetik willen. Kraus hat sich mehrfach zu und über die causa Nietzsche geäußert, u.a. direkt einen Nekrolog, der sein „freiwilliges Leiden an der Wahrhaftigkeit“ zum Ausgangspunkt nimmt. https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783111502489-063/html. Durchaus kritisch und distanziert spricht er in einem Essay über ein Feuerwerk, das aber nur Kinder beeindrucken darf, aber „ein Menschenleben weder zu erleuchten noch zu erwärrmen vermag„. Die gespaltene Haltung ist typisch für Kraus, der stets das bewahrte, was Nietzsche das Pathos der Distanz heißt.

„Der Affe Zarathustras“, so nannte ihn ein ernstzunehmender Wiener Satiriker und Gegenspieler, Anton Kuh, 1925, um die Eitelkeit und auf Spracheffekt abzielende Art seines Kollegen zu tadeln. Er hielt ihn zunächst für einen geltungssüchtigen Schauspieler, der auch die Redlichkeit im Zweifel einer Pointe zu opfern bereit war. Auf 55 Seiten einer Rede gegen den divinisierten Kritiker der Nation sprcht Kuh vom Demaskierungstrieb (ein Ausdruk Nietzsches) eines Juden, der sich und seine Herkunft verleugne, weil er zwischen den Positionen gegen alle lästern möchte. https://archive.org/details/DerAffeZarathustras/page/n3/mode/2up

Nietzsche galt dem Verleger der „Fackel“ zurecht als Kritiker der Dekadenz, zugleich als ihren würdigen Repräsentanten. Um es mit Kraus selbst zu pointieren: „Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen selbst die Zwerge lange Schatten.“ wie in obiger Freud-Kritik der Psychoanalyse hielt er die Diganose selbst für eine Krankheit, zumindest als ihren integralen Teil. Nietzsches Nihilismus-Kritik basiert folglich auf eigenen Unglauben und Selbstherrlichkeit, eine Hybris, die auch vor vermeintlihen Genies nicht Halt macht.

Neben den Essays, die sich direkt auf Nietzsche beziehen, verwendet Kraus den posthum in Mode gekommenen Philologen als Stichwortgeber, etwa in seiner Abrechnung mit Heine, was aufgrund der Spottgedichte, der romantischen Ironie und der Philisterkritiik naheliegt. Der Satiriker bezeichnet beide indirekt als überschätzte Schafe im Wolfspelz und klagt sie als Nazarener an: „So und nur so hat Heine von Nietzsche den Nazarenertypus antizipiert…. Nur Einfälle, nur das Wetterleuchten von Gedanken, die irgendwo niedergegangen sind oder irgendwann niedergehen werden.“

Das Ziel der Nazarener war die Erneuerung der Kunst im Geiste des Christentums, wobei ihnen alte italienische und deutsche Meister als Vorbilder dienten.

Foto Belinda Helmert; Musheln in Nordosjütland.Kraus: „Ein Ozean des Wahnsinns musiziert in der Telephonmuschel.“ (Essay Von zwei Städten. Berlin und Wien)

Die Unüberwindlichen

„Ein einzelner Mensch kann einer Zeit nicht helfen oder sie retten, er kann nur aus- drücken, daß sie untergeht“Ein einzelner Mensch kann einer Zeit nicht helfen oder sie retten, er kann nur aus- drücken, daß sie untergeht.“ Karl Kraus zitiert häufig; in diesem Fall stellt er Kierkegaard seinem Stück voran. Sein eigener Beginn im Vorwort lautet: „Denn die bürgerliche Welt des Zerfalls und Zufalls bedarf des Erpressers als Zuchtrute, in einem Stadium der Entartung, wo die revolutionäre Drohung ihre Schrecken verloren hat.“ „Die Unüberwindlichen“ kreist um die Journaille, die Mitschuld der Journalisten und Redakteure am Untergang, an der Malaise der Verdummung. Die schreibende Zunft tritt hauptsächlich im ersten Akt auf. Ein Exempel für die mangelnde Seriosität der „Journaillie“ liefert der Anfangsdialog zwischen Bakassy und Fallotai, die für „Die Pfeife“ schreiben.

Tucholsky widmete Kraus mehrere Aufsätze in der „Weltbühne“. Einer davon, dem 20 jährigen Bestehen „Der Fackel gewidmet“, beginnt mit den lyrischen Worten: Der zwanzigjährigen ›Fackel‹ Du hast zwanzig Jahr ins Land gestrahlt. Du hast manchen Schatten an die Wand gemalt – Rauchlos helle Flamme! Und wir sprachen zu den feinen Röcken,und wir sprachen zu den kleinen Smöcken: »Daß dich Kraus verdamme!« Gott sei Dank hast du noch nicht geendet! Mancher schrie, von deinem Licht geblendet, manches Equipagenpferd ward scheu. Viele kippelten im bloßen Gleiten. Du hingegen – auch in großen Zeiten – bliebst dir selber treu.“ http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1920/Karl+Kraus+liest

Ein weiterer, 1929 veröffentlichter Text Tucholskys bezieht sich auf ein heute weitgehend unbekanntes Stück des Dramatikers (Nestroyaners) karl Kraus. Es heißt „Die Unüberwindlichen“. „Der „Peter Panter“ rezensiert das Nachkriegsdrama in vier Akten (selbtredend in Der Fackel vorabgedruckt) http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1929/Berliner+Theater

Das humorige Stück hat kaum Handlung, darin „Das Ende der Menschheit“ seelenverwandt. Es impliziert und inkludiert Anspielungen an zeitgenössische persönlichkeiten, darunter auch Minister, Generäle, Künstler. Kraus las aus seinen Stücken, die er als lesedrama konzipierte, leidenschaftlich gerne vor, da er hier sein schauspielerisches Talent zur Geltung bringen konnte. Ein zeitlos Zeitkritik übender Satz, der vieles zusammenfasst, was er an seinen Kollegen der schreibenden, sich prostituierenden Zunft, auszusetzen hatte, lautet: „Eine Sensation muß vor allem auf den wirken, den sie betrifft, sonst is es eine halbe Sache und schadet für später!“ Modern gesprochen nur schlechte PR ist gute nachricht und eine Krise dient vor allem den Herrschenden. wo keine ist, muss man sie erfinden und hypen. Demokratisch heißtm jedermanns Sklave sein dürfen.

Nachzulesen ist das Stück unter http://www.welckeronline.de/Texte/Karl_Kraus/die_unueberwindlichen/die_unuebehier als Schauspielerrwindlichen.pdf

Foto Belinda Helmert: Frederikshavn, Nordöstjütland, 22 000 Einwohner,m ist eine neue Stadt, die ihre Gründung dem Industrialismus verdankt.

Medienkritik – Der Widersprecher

Kraus und „Die Fackel“ als sein Organ sind zugleich Journalismus und Anti-Journalismus. Programmatisch will er Journalisten – Cliquen anzugreifen und die Vorherrschaft des führenden liberalen Blattes, der Neuen Freien Presse, brechen. Diese hatte während des Krieges, heute spricht man von fake news, lanciert und lebte vom Leid der anderen. Die Redakteure waren Teil des Systems, saturierte Wohlstandsbürger.

Nachzulesen in der Dissertation „Intertextuelle Aspekte und ihre Funktion im Werk von Karl Kraus“ von Jochen Barte 2020. https://publikationen.sulb.uni-saarland.de/bitstream/20.500.11880/29428/1/Dissertation%20Jochen%20Barte.pdf

Der Journalismus in Wien bringt’s über den Geschichtenträger und Gebärdenspäher nicht hinaus„. Kraus schrieb sich den Kampf gegen Halbwahrheiten auf das Banner. Dass der Weg von der Kunst zum Publikum gehen muss, war ihm klar. Das Lesen und Zitieren der Blätter wurde durch seine provokante und geistreiche Form eine satirische Kunst. Wie bei Roth folgte einer sozialkritischen Phase in der Nachkriegszeit eine Rückbesinnung auf die Monarchie und den Konservativismus. Kontinuität verbürgte allein der unermüdliche Kampf gegen eine nur pro forma liberale und aufklärende Presse, sein Plädoyer für Diversität und Meinungskampf. Dabei sah Kraus den Liberalismus als Gefahr und die Demokratie als wehrlos an, zumal sie den Menschen oktroyiert wurde.

Den König oder Kaiser empfand Kraus keineswegs als Spitze der Arisotkratie, sondern als einen Katalysator für und Mittler zum Volk. Bloßer Reaktionismus (wie sie z. B. die „Reichspost“ repräsentierte) erschien Kraus gleichermaßen inaktzeptabel; er suchte die Mitte, die Balance, das Augenmaß und vor allem eins: den guten Geschmack. „Ich kenne kein wichtigeres als das Unheil, das in der Unverantwortlichkeit beschlossen ist, mit der die Vervielfältigung der privaten Einfalt, die Multiplikation des Minushaften, die Verbreitung eines Ungeistes und einer Unmoral, die am Biertisch verpönt wären, täglich frisch praktiziert werden.“ (Kraus, Glosse 1931 Im dreißigsten Kriegsjahr)

Das Verhältnis von Sprache und Ethik, Sprachskepsis und Sprachkritik an den Sprechenden, scharfe Beobachtung der Medien (auf den Spuren Kierkegaards, Ethik und Ästhetik zu versöhnen) rückt in den Fokus. https://www.deutschlandfunk.de/karl-kraus-verdopplung-der-kritik-die-medienmoderne-100.html

Foto Belinda Helmert: Blaue Kornblumen auf Jütland nahe Skagen.

Vorverdaut

Vorverdaut und vorgekaut: Erlebnisse und Informationen werden als Fertigware frei Haus geliefert, damit der Bürger sich nicht anstrengen muss, zu reflektieren und den Bissen zu schlucken. So lässt sich Kraus´Haltung gegenüber der scheinbar aufgeklärten und Meinungsvielfalt propagierenden Presse resümieren. Die Folge ist Massenidentität und Verlust von Intimität, der kultivierten form der Individualität. Die Aktualität von Kraus liegt neben dem Niveau und der Qualität seiner Satire in der frühen und radikalen Erkenntnis, dass Medien vor allem käuflich sind, beeinflussbar einerseits und gefährliche Organe der Selbstjustiz andererseits. Er kannte weder das Internet noch das Fernsehen, doch Zeitung und Radio wiesen bereits jene Strukturen auf, die sich heute nur potenziert haben.

Die Boulevardpresse, persönlicher Klatsch, sie steckt bereits im Feuilleton mit seinen Stereotypen. Kraus beobachtet den sich rasch entwickelnden Sensationsjournalismus nebst verstärkter antidemokratischer Agitation, die in den Nachkriegsjahren einsetzt und Diktaturen schleichen Vorschub leistet. Sein Vorbild ist hier Voltaire, der in der Kirche die harmlosere Gewalt gegenüber den dogmatischen Meinungsmachern betrachtete, lange bevor der Terminus „vierte Gewalt“ in aller Munde war.

Was könnte nach den jüngsten medialen Inszenierungen und Hetzkampagnen aktueller sein, als Kraus xt Der Hort der Republik (Die Fackel, Ausgabe 766, Oktober 1927). Mit klarem Sachverstand analysiert er darin das selbstzerstörerische Potenzial des gesamten politischen Systems und wirft den staatlichen Organen vor, dass sie Gewalt gegen die eigenen Bürger legitimierten. Wie eingangs erwähnt, täuschte sich Kraus in Dollfuß, der das Parlament aushebelte und bereits vor Hitler den Austrofaschismus verwirklichte. https://de.wikipedia.org/wiki/Engelbert_Dollfu%C3%9F

Kraus reagiert Juli 34 mit dem selbsironischen Titel „Warum die Fackel nicht erscheint“ https://birgit-boellinger.com/2018/08/30/karl-kraus-man-frage-nicht/ Der Kultursturz ist nicht mehr satirefähig, da er reine Satire ist. Auch heute scheint es unmöglich, die an Irssinn heranreichenden Geschehnisse stilvoll sarkastisch zu kommentieren. Im Wettlauf der Satire mit dem Stoff hat sie das Unverdauliche verschluckt und leidet nun an Diarröh.

Foto Belinda Helmert: Typisches Haus an der Nordostküste Jütlands

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