Prostitution als Menetekel

Bild Belinda Helmert. Collage eines Bildes Fragonards

Architekt der modernen Poesie

Und so ist nun die Kunst die einzige geistige Domäne, in welcher der Mensch sagen könnte: »Ich werde glauben, wenn ich will, und wenn ich nicht will, werd‘ ich nicht mehr glauben.“ (Baudelaire)

Baudelaire gilt zurecht als Provokateur, zudem als höchst widersprüchlich von paradoxaler Logik. Als Vertreter der Moderne – ein Begriff, der keine Epoche bezeichnet, sondern eine Zäsur und sich zudem sets neu generiert – ist er ein Repräsentant für die Kunst, die sich selbst genügt. Mindestens drei Errungenschaften, ja Durchbrüche, verdanken wir ihm: erstens das Konzept der Synästhesie, nicht nur bezogen auf die interdisziplinäre Verknüfpung von Malerei, Musik und Poesie (Dreiklang) oder der poetischen Amalgierung der fünf Sinne, sondern auch bezogen auf die intrinsische Verbindung von Anschauung und Intellekt, Sinn und Sinnlichkeit. Dies soll wie auch die beiden anderen Spezifika Baudelaires über die Reflexion der Prostitution Verdeutlichung finden, denn sie verbindet Spleen und Ideal, Sinn und Geist. Er ist der Architekt der modernen Poesie.

Baudelaires Ästhetik beginnt mit der Signatur von Säkularisierung, der Loslösung aller ethischen Aspekte wie Sittlichkeit, Pädagogik und Moral aus der Kunst, die autonom nur sich selbst verpflichtet ist. Gleichzeitig entzieht er sie damit der zeitgemäßen und auch heute noch stattfindenden Vereinnahmung durch die Politik oder Religion, und macht die Kunst frei. Schönheit genügt sich zweckfrei selbst. Paradoxerweise wird so ein apolitisches Urteil doch zu einem politischen Statement. Auch dafür erscheint der Begriff der Prostitution exemplarisch.

Baudelaire vollzieht die Auratisierung des Augenblicks, er huldigt dem Gott des Jetzt Kairos anstelle von Kronos und erzeugt so die „Katastrophe in Permanenz“ wie Walter Benjamin die Subjektivität des Objektiven nennt. Momentaufnahmen, die Apologie des Zufalls, Promiskuität: alles ist erlaubt, was gefällt. Das Credo lautet: „Schönheit ist, wenn Regenschirm und Nähmaschine sich auf einen Seziertisch begegnen“ – formuliert Isidore Ducasse (Lautréamont), einem seiner ersten Bewunderer. Baudelaire schreibt, Schönheit gleiche einem Krankenbett, in dem jeder Patient Lust darauf verspüre, sein Laken zu wechseln. Die topografische Nähe von Bordell und Krankenhaus ist eine Folge der Institutionalisierung von Paris unter Architekt Haussmann. (https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/zeitreisen/772167-Paris-zur-Weltstadt-demoliert.html)

Foto Belinda Helmert, Skuptur in Barcelona

Spleen und Ideal

Alles ist besser als Langeweile und Monotonie. Die urbanen Kathedralen der Moderne sind die gläsern – glitzernden Einkaufspassagen Lafayette und Le Bon Marché Baudelaire, stellvertretend für viele Poeten, die sich der “ Ästhetik des Bösen“ verscheiben, oberflächlich rezipiert, erscheint ketzerisch, blasphemisch oder areligiös. Als Häretiker galten einst aber auch Galilei, Kepler und Bruno, Vordenker Newtons und Einsteins. Baudelaire jedoch will in seinem Plädoyer für art pure oder l´art pour l´art die Kunst vor dem Eindringen der Wissenschaft bewahren und ebenso vor der zunehmenden Funktionalisierung . So verdient sich Toulouse Lautrec sein Geld für das aufkommende Moulin Rouge mit Werbefassaden und Plakaten.

Als Mystiker echauffiert er sich über Heines und Voltaires Spott über die Religion. In unserer Welt der Polemik, die nur Schwarz-Weiß oder Links-Rechts Unterscheidungen vornimmt und zur Lagerbildung bzw. Schubladenetikettierung neigt, ist kaum Platz für die subtilen Zwischentöne und Farbnuancen, für die Baudelaire verantwortlich zeichnet. Er, der zwischen der rationalen Aufklärung und sentimentaler Romantik steht, will Spleen und Ideal, Stimmung und Bedeutung, den Augenblick und die Ewigkeit amalgamieren. Das geeignete Mittel dazu erkennt er in der Prostitution.

Das älteste Gewerbe der Welt, so sagt man. Lateinisch prostituere, zur Schau stellen, ausstellen. Wer sich wie Baudelaire mit der etymologischen Wurzel beschäftigt, wird auch bei Religion aufmerken. Nach außen gekehrte Rituale, Sorgfalt, Achtsamkeit, sind nur einige der Grundbedeutungen, die heute selten mit Prostitution assoziiert werden. In Ägyptern, noch mehr bei den Hellenen und Römern erhalten Hetären eine kultische und prophetische Bedeutung. Religion, Mystik, irrationale Glaubenserfahrung sind zu diesem Zeitpunkt nicht frei von sinnlicher Erfahrung. Käufliche Lust in hedonistischer Auslegung, Hospitaität und Staatsraison sogar eng verbunden. Im Zeitalter der Romantik beginnt Spezialsierung und die Welt wird in mikroskopischen Bestandteile zerlegt. Prostitution inkludiert grundlegend etwas zu zeigen, zu offenbaren und damit dem Verschleierten und dem Verborgenen zu entreißen.

Foto Belinda Helmert, Barcelona, La Sagrada Familia, Gaudi,

Kunst ist eine Form der Prostitution. Jeder prostituiert sich, der eine heilige Ideen im Ideal ikonisiert und daraus Ideologie werden lässt. Prostitution bleibt nicht reduziert auf Käuflichkeit, Verrat und Desillusionierung, . Stellvertretend sei auf Balzacs Les Illusions perdus (Verlorene Illusionen) und Madame Bovarys berühmtes Zitat: „Ich bin zu bedauern, zu kaufen bin ich nicht“ verwiesen.

Provokation durch Polarisierung

Polarisierung wie spleen und Ideal gehören zu seinem poetologischen Konzept. Baudelaire provoziert  in seiner Abbreviatur, wenn er sagt, es gibt nur zwei Typen von Frauen, die Köchinnen und die Huren oder auch die Ehefrau und die Geliebte. Sein Credo liefert Anreiz für Buchbestseller wie „Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überallhin“. Der Dichter schreibt, Religion sei nichts für Frauen, weil sie sich nicht zur Spiritualität eignen. Er sieht daher einen fundamentalen Widerspruch zwischen Askese und Religionverachtet den Protestantismus als Kult der Nüchternheit. Die Mystik sieht sich auf die Diktatur des Wordes vermindert. Religion aber will den Rausch, die Ekstase (des Aus sich Heraustretens).

In Frankreich sagt man gerne, wenn man stolz auf sein altes und nicht ganz aufgeräumtes Fahrzeug ist: Mein Auto ist mein Bordell. Das Bordell ist bereits eine, meist kommerzielle, Institutionalisierung und damit ökonomisierte Zweckausrichtung der Prostitution, die Baudelaire Ökonomisierung der Bedürfnisse heißt noch bevor Freud von libidinösen Systemen spricht. So artikuliert der Dichter und Kunstkritiker den Zusammenhang zwischen Syphilis und bigotter Moralpädagogik. Romantik ist für ihn eine Haltung zur Gesundheit, ein mal du siècle, eine Krankheit des Jahrhunderts, kurz Todestrieb. Die Wechselwirkung von Eros und Thanatos wird transformiert zur Ökonomisierung der Bedürfnisse.

Die gesamte Architektur dient der Profanität: Werbung und zum Kosum- und Geschlechtstrieb, so dass auch der Mensch bald zur Ware wird. Auch der Bezug zwischen produktfremden Anreizen (teaser oder trigger) wikrt für die kognitive Dissonanz: sex sells. Erotik oder Sexualität dienen der Wertsteigerung einer Dienstleistung oder des sich prostituierenden Versprechens auf Glück.

Baudelaire unterscheidet auch Fantasie von Einbildungskraft, die kreativ Neues erzeugt, wohingegen Fantasie bestehende Dinge oder Erfahrungen nur miteinander verknüpft. Der Eindruck wird entscheidend für die Triebverlagerung und daher ist der Augenblick entscheidend. Kurz, Prostitution, die Zurschaustellung des Körpers, ist überall, auch in der Kunst und sogar in der Protest-Kunst.

Foto Belinda Helmert, Barcelona, Stier-Skuptur

Prostitution in der Kunst

Prostitution ist von Schönheit nicht zu trennen; in ihr spiegeln sich die drei wichtigsten Motive Baudlairscher Dichtung: Traum, Reise und Utopie als Ideal. Wie das Licht nicht vom Schatten zu trennen ist, so nicht schließt das Schöne auch das Aas (https://gedichte.xbib.de/Baudelaire_gedicht_Ein+Aas.htm) aus, weder den Bordstein (https://de.frwiki.wiki/wiki/Le_Soleil_(Baudelaire)) noch den Lumpensammler. (http://www.zeno.org/Literatur/M/Baudelaire,+Charles/Lyrik/Die+Blumen+des+B%C3%B6sen+(Auswahl)/Der+Wein/Der+Wein+der+Lumpensammler)

Alles kann schön sein, betrachtet man es frei von wertenden Urteilen. Prostitution heißt, für die reine Ästhetik, ihren Schein und ihre Kunst der Illusion zu wirken. Daraus entstehen Genuss, Freude, Passion. Poesie gleicht daher einer schwarzen Sonne., die Melancholie wird Triebfeder der Schaffenslust. Kunst, wie Baudalere sie konzipiert, erfordert guten Geschmack und ist kein subjektives oder gar beiebiges Urteil, sondern höhere Mathematik, die Regeln folgt. In diesem Sinn konvergiert das Reich der Freiheit mit dem der Notwendigkeit. Schönheit ist so überwältigend, dass sie als solche empfunden werden muss.

Baudelaire besaß eine starke Affinität zur Mathematik, aber auch zum Zufall. Die Evolution kennt keine Schönheit, nur Telos (Zweck) und Ananke (Zwang). Daher interessierte sich der Dichter nicht im Mindestens für die Natur. Seine Gedichte über Sonnenunter- und Aufgang oder über die Tränen des Mondes besitzen einen allegorischen oder symbolischen Hintergrund, um gewisse Stimmungen zu erzeugen. Dieses gerichtet sein auf eine Wirkung heißt Baudelaire Prostitution. Sie ist daher eine mathematische Gleichung, freier der inneren Stimmlichkeit mit einer äußerlichen Korrespondenz.

Prostitution sollte vom Geschmack des Profanen befreit werden, es ist auch etwas heiliges, schwebendes, tanzendes darin. Spleen und Ideal sind keineswegs Antithesen oder ANTIPODEN und schon gar nicht unverträglich wie Gut und Böse. Baudelaire: „Was kümmert es Gott, was der Mensch erleidet oder denkt, wo er doch das einzige Lebewesen ist, das, um zu herrschen, nicht selbst zu existieren braucht.

Foto Belinda Helmert, Barcelona

Kunst verwehrt sich der Reproduzierbarkeit

Drei Phänomene sollten jedem Betrachter der Kunst und jeden Kunstschaffenden vor Augen treten: Wer Kunst nicht versteht, weil sie sich der eigenen Rezeptionsgewohnheit entzieht, hat die Metaaussage, dass Kunst sich selbst genügt, nicht verinnerlicht. Künstlerischer Anspruch ist nicht künstlich, sonst erstürbe er im Kitsch und im Klischee der Vergnügungs- und Verwertungsindustrie. Kunst hat ihren (materiellen) Preis, doch vor allem ihren (ideellen) Wert. Ersteren kann man kaufen, letzteren nur lieben.

Kunst herrscht auch in der Politik der Gestaltung, in der Rhetorik, der Blendung und der virtuellen Suggestion, der Meinungsmache (Manipulation) und sogar der Konstruktion der Objektivität. Wir leben zunehmend in virtuellen medialen Schein-Welten und digitaler Realität. Baudelaire scheint diese Entwicklung in seiner heute frefremdlich anmutenden Abneigung gegenüber der Fotografie (genauer der Daguerro- und der Lithografie) zu antizipieren. Das schlichte Wiedergeben von Gesehenem entspricht nicht der Kunst, Unsichtbares sichtbar zu machen.

Baudelaire lehnt bereits die analoge Form der Reproduktion ab. Zum einen, weil sie die Imagination und die Aura des Eigentlichen raubt, zum anderen, weil sie zur Inszenierung neigt. Walter Benjamins Aufsatz „Über die Kunst im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit“ greift diese Argumente auf. Baudelaires Verdikt, die Ablichtung wie die bildenden Kunst schränkt die freie Einbildungskraft zu sehr ein, ist vergleichbar mit Nietzsches Perspektive auf die Oper. Er lehnt sie ab, weil sie das Wesentliche, die Musik verdirbt und auch an das reine Schauspiel nicht heranreicht. Baudelaires Affinität zur Malerei verbot ihm eine bloße Wiedergabe der Realität als eigenständiges Kunstwerk zu sehen.

Für Baudelaire liegt in Prostitution eine Haltung vor. Sie setzt damit ein, dass wir alle, sofern wir uns um die Wirkung und damit Fremdwahrnehmung bemühen, bereits zu Huren machen. Daher inkludiert seine Kunstkritik immer eine Absage an Gefälligkeit, Unternhaltsamkeit und Epigonie. Jede Form von Imitat oder Kopie geht zu Lasten von Originalität und Authentizität. Er liebte darum Delacroix und Goya und sah ihre musikalischen Entsprechungen in Wagner und Mozart. Eine rigorose Ablehnung der Anpassungskultur, die Adorno Freizeitindustrieverwahrung heißt, ist in seinem Elitarismus bereits vorweggenommen. Ein wenig mehr Dandy als anti-zyklischer Individualist täte uns allen heute not. In diesem Sinn: Der König ist tot. Es lebe der König.

Foto Belinda Helmert, Oper Gran Teatre del Liceu, Detail

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